Schon seit der Ansiedlung der ersten deutschen Kolonisten im 18. Jahrhundert war für das Ungarndeutschtum neben der Ausbildung zusammenhaltender Gemeinschaften Fleiß, Sparsamkeit und ein friedliches Zusammenleben mit den anderen Nationalitäten charakteristisch. Nach dem Friedensvertrag von Trianon wurde die in „Rumpfungarn verbliebene” deutsche Volksgruppe mit ihrer Anzahl von 550.000 Menschen die größte nationale Minderheit des Landes. Damals lebten in Ungarn 7,6 Millionen Menschen, so machten die Deutschen fast sieben Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Vor einem Jahrhundert fing das Ungarndeutschtum an, auf dem Gebiet des verbliebenen Trianon-Ungarns sich mit Jakob Bleyer politisch zu organisieren. Heute leben wir in einem Land, wo man schon über entsprechende Nationalitätenrechte sowie kulturelle Autonomie sprechen kann. Trianon und die darauffolgenden Jahrzehnten im 20. Jahrhundert brachten nicht nur für die Mehrheitsnation gravierende Änderungen, sondern auch im Leben der Ungarndeutschen.
In den elf Studien in dieser, von Historikern Ferenc Eiler und Ágnes Tóth redigierten – und teils auch von ihnen verfassten – im Jahre 2020 herausgegebenen Publikation geht es um die Volksgruppe beeinflussenden Ereignisse und Prozesse der vergangenen 100 Jahre. Die historischen Studien sind sehr tiefgreifend und mit fachwissenschaftlicher Gründlichkeit verfasst. Der Band kann aber nicht nur dem Fachstudium oder der Recherche dienen. Die Studien decken bislang weniger erforschte, örtliche Ebenen und auch alltägliche Gebiete der Geschichte auf. Mit ein gewisser Übertreibung kann ein jeder, der sich für die Geschichte der Ungarndeutschen in der behandelten Epoche interessiert, für den eigenen Geschmack etwas finden. Als Rahmen zu den weiteren zehn wissenschaftlichen Arbeiten gilt die 70 Jahre übergreifende erste Studie Magyarország nemzetiségpolitikája (1918–1989) /Die Nationalitätenpolitik Ungarns (1918–1989)/ von Ferenc Eiler über die wandelnde Nationalitätenpolitik des Landes. Dieser folgen die einzelnen, unterschiedlichsten Themen behandelnden Schriften in zeitlicher Reihenfolge. So werden im Band das Verhältnis zwischen dem katholischen Klerus und dem Ungarndeutschtum in der Zwischenkriegszeit und während der Vertreibung, die politische Mobilisation der Volksgruppe und deren Jugend durch den Volksbund sowie die Frage des Muttersprachenunterrichts und die Einstellung der Lokalverwaltung gegenüber den Ungarndeutschen behandelt. Man erfährt auch, wie unterschiedlich die „deutsche Herkunft” als Grundlage bei der Verschleppung zur Malenkij Robot interpretiert wurde. Über die Familienzusammenführung und/oder Repatriierung zwischen 1948 und 1953 kann man ebenfalls lesen. Die vorletzte Arbeit erzählt uns über die Kontrolle der Beziehungen der vertriebenen und in Ungarn gebliebenen Ungarndeutschen durch die Staatssicherheitsdienste in den 1960er Jahren. Als Abschluss folgt eine Studie über die nahe Vergangenheit, nämlich über den Ausbau des Selbstverwaltungswesens der Ungarndeutschen von 1994 bis 2014.
Den Studienband empfehlen wir allen, die sich für bislang weniger erforschte historische Fragen und Zusammenhänge bezüglich des Ungarndeutschtums interessieren.
Eiler Ferenc – Tóth Ágnes (Red.): A magyarországi németek elmúlt 100 éve. Nemzetiségpolitika és helyi közösségek
(Die vergangenen 100 Jahre der Ungarndeutschen. Nationalitätenpolitik und örtliche Gemeinschaften)
Budapest : Argumentum Kiadó – Társadalomtudományi Kutatóközpont, 2020.
311.S.
Sprache: ungarisch mit deutscher Zusammenfassung der einzelnen Studien
Die empfohlenen Bücher sind in der Sammlung der Ungarndeutschen Bibliothek – wenn nichts weiteres Angegeben- nur zur Leihe zugänglich.
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