Schon zur Zeit der Staatsgründung war das Königreich Ungarn – wie wir es heute sagen würden – ein multiethnisches Land. Einige Völker waren schon vor der Landnahme der Ungarn im Karpatenbecken anwesend, andere kamen mit ihnen, oder wurden später – wie die Sachsen – ins Land gerufen. Im Mittelalter waren die jeweiligen Herrscher immer bestrebt, dass das Land stark und unabhängig bleibt, und ihre Völker friedlich zusammenleben, wobei die Ungarn die Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. Der kontinuierlichen Entwicklung im Mittelalter hat die 150-jährige Türkenherrschaft ein Ende gesetzt, und nach 1686 hat sich auch die ethnische Zusammensetzung des Landes enorm verändert. Unter den Nationalitäten erreichte der Anteil der Ungarn erst bei der Volkszählung im Jahre 1910 wieder eine Mehrheit in der Bevölkerung. Diese „knappe Mehrheit” war größtenteils auch nur Folge des ungarischen Nationalismus, also der Assimilation und der kontinuierlichen Magyarisierungsbestrebungen.
In den 19. und 20. Jahrhunderten führten der Nationalismus und der Kommunismus im bis dahin friedlichen Zusammenleben der Nationalitäten im Karpatenbecken zu tragischen Änderungen. Den dreizehn anerkannten Nationalitäten Ungarns sind heutzutage zum Glück jedoch weitgehende Nationalitätenrechte gesichert. Diese 2020 vom Ungarischen Staatsarchiv herausgegebene Arbeit mit dem Titel Az együttélés történelme: nemzetiségi kérdés Magyarországon (Die Geschichte des Zusammenlebens: Nationalitätenfrage in Ungarn) ist der erste, einleitende Studienband einer geplanten Reihe, in der es über die Geschichte der dreizehn heute anerkannten Nationalitäten und die der Juden Ungarns geht. Vorliegendes Buch beinhaltet dreizehn Studien, die die Geschehnisse vom Mittelalter bis zur Wende 1989 mit dem Fokus auf die nationalen und religiösen Minderheiten Ungarns behandeln. Über die Zeit von der Landnahme bis zum 15. Jahrhundert berichtet die erste Studie. Hier kann man neben den Deutschen, Slawen oder Rumänen über die muslimische und die jüdische Minderheit des mittelalterlichen Königreichs lesen. In den anderen zwölf Studien wurden die Epochen nach der Türkenherrschaft, so auch die Ungarndeutschen eingehender behandelt. Fragen bezüglich der Veränderung der ethnischen Zusammensetzung des Landes in der frühen Neuzeit, des Zusammenlebens der nationalen Minderheiten mit den Ungarn und der Herausbildung des sog. „Hungarus-Bewusstseins” werden ebenfalls beantwortet. Die Epochen des 19. Jahrhunderts wie das Reformzeitalter mit dem Sprachnationalismus der Ungarn, das Verhältnis der Nationalitäten zum Freiheitskampf von 1848/49 bzw. ihre Bestrebungen vor und nach dem Dualismus bleiben auch nicht unberührt. Die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts behandeln die letzten sechs Studien. So kann man u. a. über die Lage, Bestrebungen und Handlungen der Nationalitäten im Ersten Weltkrieg, nach dem Friedensvertrag von Trianon, in der Zwischenkriegszeit, während und nach dem Zweiten Weltkrieg lesen. Die Studie von György Ritter ist für die ungarndeutschen Leser äußerst lesenswert. In dieser wird der Themenkreis Flucht, Vertreibung und Zwangsmigration der Ungarndeutschen, der Ungarn aus dem historischen Oberungarn und auch die der Sekler aus der Bukowina eingehend, also auch im Kontext der ungarischen Siedler behandelt.
Den Studienband empfehlen wir allen, die über die Lage der Nationalitäten in Ungarn vom Mittelalter bis zur Wende im 20. Jahrhundert lesen möchten.
Az együttélés történelme: nemzetiségi kérdés Magyarországon
(Die Geschichte des Zusammenlebens: Nationalitätenfrage in Ungarn)
Budapest: Magyar Nemzeti Levéltár, 2020.
308. S.
Sprache: ungarisch
Die empfohlenen Bücher sind in der Sammlung der Ungarndeutschen Bibliothek – wenn nichts weiteres Angegeben- nur zur Leihe zugänglich.
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